Dr. Arie Hartog

Zur Ausstellung in Bremen 2007

 

(...) passiert durch diese tagtägliche Betrachtung etwas anderes. Diese Arbeiten werden irgendwie nicht vertraut. Sie bleiben fremd. Es ist eine spröde, eigenwillige Bildsprache, die scharf und nie geschmeidig ist; eine Kunst, die auf eine höchst eigentümliche Art und Weise Geplantes und Nicht-Planbares verbindet. Kirschmann ist vor allem einer der wenigen Künstler in Bremen, die auf die bildenden Qualitäten ihrer eigenen Werke vertrauen. Und diese bildenden Qualitäten sind nicht sofort ersichtlich, es ist keine „schau mal hier, wie schön ich bin- Kunst“, sondern eine langwierig entwickelte eigene Bildsprache, die im wahrsten Sinne des Wortes abstrakt und persönlich ist.

Um der Eigenart dieses Werkes auf der Spur zu kommen, möchte ich heute auf eine mathematische Figur zu sprechen kommen. Die sogenannte kombinatorische Explosion. Wir kennen das aus dem wahren Leben wie aus der Sozialwissenschaft: irgendwann ist die Anzahl der Parameter so groß, dass eine Situation unübersichtlich wird. Einen Faktor kann man beherrschen, den zweiten auch noch, aber da der zweite auch den ersten beeinflusst, wird die Sache kompliziert. Und das kann man weiterführen, mit einem dritten und vierten Faktor bis man beim Wahnsinn des Lebens landet.

Im Werk von Kirschmann beobachte ich einen vergleichbaren Prozess: eine Linie, eine Form, ein Umriss, das sind jeweils klare Setzungen. Mit der nächsten Setzung ändert sich die komplette Situation. Formen fangen an auf einander zu reagieren und zusammenzuspielen. Sobald zwei Formen auf einer Fläche stehen, wird der Zwischenraum zum Thema. Man merkt bei Kirschmanns Kunst ein permanentes Untersuchen, davon, was die Setzung von einem nächsten Element bedeutet. Aber seine Kunst ist ebenso von einem – nennen wir es -  Anhalten bestimmt, von einem Anhalten bevor die Situation ins Unübersichtliche kippt, und ich habe den Eindruck, dass es die Spannung kurz vor der kombinatorischen Explosion ist, welche diese Kunst bestimmt. Es ist daher auch eine Kunst mit Spannung, aber ohne explosiven Druck. Das ist es auch was viele daran irritiert. Seine Formen kommen von der Zeichnung her, sie erinnern viele Betrachter an technische Zeichnungen, aber das hat mit einer Methode zu tun, bei der die Handschrift unterdrückt wird.

Aber was passiert wenn eine solche Form, die in der Fläche entstanden ist, in Holz gesägt wird und damit der nächste Faktor hinzukommt: der Raum. Sie wird kompliziert, es kommen Schatten dazu: konkave und konvexe Formen ändern ihre Wertigkeit. Tiefe Löcher sind dunkler als weniger tiefe und schon entwickelt die Zeichnung sich in Richtung der Bildhauerei. Eine eigenartige, gehemmte Bildhauerei, die davon bestimmt wird, dass sie sich aus Flächen heraus entwickelt und sich also nie frei in alle Richtungen entfalten kann. Die Freiheit liegt bei dieser Kunst im Unauffälligen, in der Variation, darin, dass etwa jedes einzelne Element der großen Form eine andere Öffnung besitzt, wodurch sich,  sobald die Form lang genug wird,  irgendwann die Frage nach der Sichtbarkeit stellt. Denn wer sieht, wer versteht, dass und was der Künstler damit schafft – auch wieder im Sinne des Beherrschens – versteht, dass das Kunstwerk auf etwas verweist, das nicht sichtbar ist – und sich doch im Werk befindet.

Es war daher auch logisch, dass der Künstler irgendwann gesehen hat, dass der Sockel nicht eben ein bloßes Ausstellungsutensil ist, sondern ein Teil, das die Räumlichkeit bestimmt. Ein kleines Teil auf einem großen Sockel gibt Teil und Sockel eine andere Wertigkeit. Aber es geht nicht darum, das zu beschreiben, zu theoretisieren, sondern ganz einfach zu tun. Vielleicht ist es das, was ich an dieser Kunst so schätze, dass ich auch mit acht Jahren Kunstgeschichtstudium und einiges an Erfahrung mich wirklich quälen muss, um die Qualität dieses Werk in Worte zu fassen.

Das hier ist Kunst, die auf Bilder vertraut und stärker sogar, durch nichts von der Kunst ablenken will. Das ist eine Position, die heute sehr selten geworden ist. Dieses Werk täuscht keine gesellschaftliche Relevanz vor. Das einzige was dem Betrachter bleibt, ist die Konfrontation, direkt und ohne Wissen: es gibt nicht mal einen Ausstellungstitel. Der Umweg über die vorgetäuschte Relevanz – Sie kennen das: ein Werk soll ironisch oder gar kritisch sein, Medienkonsum thematisieren usw., diese vorgetäuschte Relevanz ist ja heute das Eintrittsticket in den Kunstmarkt – oder eigentlich der Rückfahrschein ins neunzehnte Jahrhundert, aber das wollten wir hier nicht thematisieren, sondern die direkte Konfrontation mit diesem Werk.

Kirschmanns Werk entwickelt sich langsam, Schritt für Schritt in einer Abfolge, die man – vor allem da uns die Terminologie fehlt −wohl experimentell nennen sollte. Experimentell in dem Sinne, dass einem Arsenal an Erfahrungen jeweils eine Erfahrung hinzugefügt wird und dann geschaut wird, ob es „funktioniert“. Da zeigt sich die in Bremen immer wieder diskutierte Verbindung zwischen Kunst und Wissenschaft auf eine sehr schöne Weise. Es ist ja oft so, dass da, wo ein bestimmtes Etikett drauf steht was ganz anderes drinsitzt. Und das gilt auch für das Experiment in der Kunst. Da Menschen durch Bilder einfach zu verführen sind, wird viel unter Experiment gefasst, was aber nichts anderes ist, als dass es aussieht, wie wir uns Experimente vorstellen. Sie kennen das: Reagenzgläser in Ausstellungen. Aber es gibt eine andere Methode des Experiments, bei denen man auf der Basis von Erfahrungen immer neue Elemente oder Variablen einführt und dabei Hypothesen testet. Und wenn wir dann über unser Thema reden, nennen wir die Hypothesen Kunstwerke.

Der Test für eine solche Hypothese ist eine Ausstellung. Denn dort werden Betrachter damit konfrontiert, mit der Fremdheit und auch mit der Eigenart. Und beide muss man aushalten, als Betrachter – und als Künstler. Bei Hanswerner Kirschmann, der relativ wenig ausstellt, ist eine solche Ausstellung eine Momentaufnahme, ein „hier ist diese Kunst jetzt“ und nicht – um bei der wissenschaftlichen Parallele zu bleiben – ein Beweis. (...)

 

 

 

 

 

Michael Stoeber

Sowohl – als auch

 

Hanswerner Kirschmann fertigt nach eigenem Dafürhalten Arbeiten zwischen Zeichnung und Bildhauerei an. Hier taucht zum ersten Mal, ohne explizit benannt zu werden, der Begriff des In-between auf. Er hat wie kein anderer Karriere gemacht in der zeitgenössischen Kunst, da er sie aus dem Ghetto der Gattungen geholt und in die Freiheit des Interdisziplinären und Intermediären geführt hat. Der Wunsch, in der Kunst Zwischenzustände zu erforschen, reagiert auf eine veränderte Vorstellung vom Menschen und seiner Autonomie, die sich in dieser Form erst in der Moderne so richtig ausgeprägt hat. Ihr zufolge weiß man deutlicher als je zuvor in der Geschichte, wie sehr er ein Doppelwesen ist, auf Schnittstellen balancierend wie auf Messers Schneide und hin und her gerissen zwischen Gefühl und Verstand, Bewusstsein und Unbewusstem, Geschichte und Gegenwart. Mit der Konzentration auf das Intermediäre verbindet sich der Wille Hanswerner Kirschmanns, Grundlagenforschung zu betrieben und die Parameter der Bildhauerei einer näheren Betrachtung zu unterziehen: Wie ist das Verhältnis von Fläche und Volumen, von Volumen und Raum, von Raum und Betrachter? Welche Rolle spielt der Sockel? Wann ist er Teil des Werks, wann unabhängig von ihm? Wann muss ein Werk einen Sockel haben, wann kommt es ohne ihn aus?

Das Intermediäre verbindet sich mit dem Widersprüchlichen, das gleichwohl in Balance gebracht sein will, zu einem Sowohl – als auch. Das schreibt sich leichter, als es getan ist. Das ist nicht allein eine semantische, sondern in erster Linie eine formale Aufgabe. Wenn ein Werk ästhetisch nicht gelingt, dann ist es keine Kunst. Dann hat es seinen Zweck definitiv verfehlt. Hanswerner Kirschmann ist ein Meister in der Zusammenführung und Harmonisierung des Disparaten und Nicht-Zusammengehörigen. In „o.T.“ (2002) – alle Werke des Künstlers sind ohne Titel, nicht, weil ihm zu seinen Arbeiten nichts einfiele, sondern weil er die Betrachterfreiheit nicht einschränken will – sehen wir ein flaches Wandobjekt aus Sperrholz mit unregelmäßigen Konturen, blau lackiert bis auf zwei identische, fast vertikale, einander benachbarte Formen im oberen Bereich. Die Traditionen, an die es anknüpft und die es aufruft, sind vielfältig: gestische Abstraktion, Minimal Art, monochrome Malerei. Sie werden in einer Weise synthetisiert und zusammengeführt, dass keine Kunstrichtung die andere in Dienst nimmt und dominiert und aus der Verbindung aller etwas absolut Neues und Eigenständiges, so bisher noch nicht Gesehenes, entsteht. Das gelingt nur wenigen Künstlern. Ähnlich ist der Eindruck bei der Betrachtung von „o.T.“ (2004/06). Ein aus Spanplatten gebildeter Quader, dessen oberer Teil leicht zurückspringt. Dort zeigen sich zwei aus Sperrholz geformte Öffnungen, die wie Münder mit weit vor gestülpten Lippen aus ihm hervorragen. In einem weiteren Werk, „o.T.“ (2012), verbinden sich zwei gegeneinander versetzte Quaderformen zu einer. Im unteren Bereich sehen wir drei Einschnitte, die wie unregelmäßige Linien das Volumen des Objekts irritieren, zusammen mit einer gezackten, runden, ebenfalls von einer Säge herrührenden Öffnung und einem runden Sperrholzrohr in seiner Mitte. Bei einem stuhlförmigen Quader, „o.T.“ (2005/08/11), sind in die Oberfläche regelmäßige und unregelmäßige reliefartige Formen eingelassen. Ein an der Wand hängender großformatiger Quader, „o.T.“ (2008/12), ist mit einem kleinen Relief tätowiert. Es steht im Dialog mit weiteren Wandzeichen über ihm. Ein Relief aus Sperrholz schmückt einen schmalen Quader, „o.T.“ (2012), der einem konstruktiven Idol ähnelt.

 Hanswerner Kirschmann stimmt im Salon Salder seine Werke auf den Raum ab, in dem er sie zeigt. Dabei bedient er sich schon geschaffener Arbeiten. Sein Beitrag ist „in situ“, und er ist es auch wieder nicht. So beobachten wir bei der Präsentation einmal mehr ein intermediäres und widersprüchliches Moment. Ganz ähnlich ist es, wenn der Künstler über seine Werke als von Artefakten spricht, die nichts abbilden und doch etwas zeigen wollen. Soll heißen, die nicht dies oder das sind, nichts Bestimmtes und Distinktes, nichts unmittelbar Wiedererkennbares, keine realen Spiegelbilder  und die doch zur Welt und zur Wirklichkeit gehören. Indes wohl eher als utopische Traumbilder einer „coincidentia oppositorum“ denn als konkrete Zuschreibungen. Eher Möglichkeits- als Wirklichkeitsformen. Zu den für Hanswerner Kirschmanns Werk charakteristischen Begriffen wie intermediär und widersprüchlich gesellen sich noch das Vorläufige und Unvollkommene. Sie bleiben nicht bei der Bildhauerei stehen, sondern verbinden sich wie von selbst zur perfekten Analogie eines Bildes vom Menschen.

(Ausstellungskatalog Salon Salder, 2015)